Bewerbungstext
an der Kunsthochschule für Medien Köln


Gelesen von Sprecher Arne Obermeyer

Was sieht ein unsichtbares Sehorgan?

Ich habe so lange darüber nachgedacht, dass ich die gesamte Unsichtbarkeit der Welt zerstört habe. Es ist alles so unwahrscheinlich sichtbar geworden. Jedes kleinste Härchen, jede Faser meines Körpers. Jede Maserung und jeder Kratzer in der Holzplatte meines Schreibtischs. Jeder Kiesel am Boden der Straße vor meiner Tür. Eine Tasse Kaffee.
Als ob man zu viel davon getrunken hätte, ist jede kleinste Berührung, jedes Anstoßen,
Umdrehen, Hinsetzen…
Unbehagen, nervtötend, Reizüberflutung.

Ist es das, was ein Unsichtbarer zu sehen vermag? Ist es das was wir nicht wahrnehmen in unserem tumben alkoholverdröhnten
Bewusstsein? Vielleicht sieht er mehr als jeder Einzelne von uns. Ist ein Mensch blind, verstärken sich seine restlichen Sinne.
Das Hören, das Riechen, Schmecken, Fühlen.
Das Dichten.
Die Luft zu fühlen auf der Haut und vom Wind zu wissen, woher das nächste Hindernis kommt. Aus einer Ahnung, aus einem Bewusstsein.
Wenn er doch nicht gesehen werden kann.
Wenn ihm der Sinn fehlt für Selbstdarstellung.
 Dann, kann er vielleicht
doppelt so gut sehen?
Wenn ich es ahne, es erahne. Bin ich dann nicht vielleicht schon der Unsichtbare?
Bin ich unsichtbar?
 Verliere ich meine Substanz? Meine Sichtbarkeit? Meine Existenz?

Nein. Das glaubt ihr nur!
Ihr auf den Straßen mit euren Schuhen an den Füßen.
Mit den schicken Klamotten oder den zerfledderten 
Hosen.
Niemand sieht mich, ja niemand nimmt mich mehr wahr, denn ich sehe viel mehr als alle andern! Ich bin es der sichtbar ist! Ich allein!
 Und dadurch. Dadurch eben nicht. Nicht-Sichtbar.

Schon habe ich die Unsichtbarkeit zerstört. Ich habe mich selbst zum Unsichtbaren gemacht. Mich selbst verschwinden lassen, um zu sehen.
Zu sehen, was passiert.
Was wäre, fiele ich mitten auf der Einkaufsstraße um.
Schläge mir den Kopf auf. Bliebe liegen.
Wäre dies nicht ein wundervoller Selbstversuch?

Ein Beweis für: meine Unsichtbarkeit.
Ein Beweis für: die Sichtbarkeit der anderen Menschen.
Ein Beweis für: die Unsichtbarkeit ihrer Augen, ihrer Pupillen.

Unsichtbarkeit durch Unverständnis.
Etwas, das wir nicht sehen, verstehen wir nicht.
Etwas, das wir nicht verstehen, sehen wir nicht.
Unsichtbarkeit
der Seele.
Denn das Gespür ist tot. Schon, lang.

Niemand sieht sich.
Wie können wir andere Menschen wahrnehmen,
wenn wir uns doch selbst nicht erkennen.
Man sagt es immer leicht. Man liebt. Man liebt nicht, liebt man sich nicht selbst.
Geschwafel!
Geschwafel von Goethe und Schiller!
Geschwafel von Bunte-Magazin Romantik!
Wer sich nicht sieht, der sieht auch sonst niemanden.

Das ist alles.